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Annexionen, ethnische Säuberungen und bedingungslose Solidarität

von Dr. Markus Fiedler | Für den 1. Juli 2020 war angekündigt worden, dass der israelische Ministerpräsident Netanjahu bekanntgeben wollte, wie und in welchem Zeitrahmen er die Annexion des besetzten Westjordanlands durchzuführen gedenkt. Obwohl die erwartete offizielle Verkündung der Annexion bislang nicht erfolgte, geht es längst nicht mehr um das „ob“, sondern lediglich noch um das „wie“. US-Präsident Trump hatte bereits im Januar „grünes Licht“ erteilt, Netanjahu sprach denn auch davon, dass er bei den Plänen „auf diskrete Weise mit den Amerikanern zusammenarbeitet“. Der Zeitplan gerät somit zu einer taktischen Frage, um die US-Verbündeten in der Region nicht allzu sehr zu brüskieren. Wenn man die Annexion häppchenweise vollzieht, so die Kalkulation in Washington und Tel Aviv, würden dies die arabischen Verbündeten leichter schlucken und auch die befürchteten negativen Auswirkungen auf die verbündeten Regierungen würden sich eher in Grenzen halten. Der jordanische König Abdullah II. hat in letzter Zeit unmissverständlich durchblicken lassen, dass eine sofortige radikale Annexion die Stabilität Jordaniens und seinen Thron gefährden könne. Auf solche Verbündete gilt es Rücksicht zu nehmen, wenn sich auch an der Durchführung des Plans nichts ändert.

Die EU (seit 1.7.20 unter deutscher Ratspräsidentschaft) warnte zwar – wie z.B. auch der UN-Generalsekretär und die Mehrheit der UN – vor den unkalkulierbaren Folgen einer solchen Annexion, aber man unternahm in der Praxis nichts, um dies zu verhindern. Außenminister Heiko Maas versuchte es bei seinem kürzlichen Besuch bei Netanjahu einmal mehr mit „leisen Tönen“, wobei von vornherein klar war, dass diese bei Netanjahu auf taube Ohren stießen. Der israelische Premier erdreistete sich sogar, den deutschen Außenminister mit Quarantäne (wegen angeblicher Corona-Gefahr) zu drohen, falls er auf seine Absicht bestand, auch der palästinensischen Autonomiebehörde einen Besuch abstatten zu wollen. Die deutsche Regierung hat die Annexion am 1.7. immerhin als „völkerrechtswidrig“ bezeichnet. Der für den 1.7.2020 von der Bundestagsmehrheit geplante Antragsentwurf an das deutsche Parlament sieht eine Kritik der Annexion und eine Warnung vor den Folgen vor. Es handelt sich allerdings lediglich um einen Appell, um eine „dringliche Forderung“, deren Missachtung jedoch keinerlei Konsequenzen – wie die Einstellung der militärischen Zusammenarbeit oder die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel – folgen sollen. Es ist von vornherein klar, dass sich die israelische Regierung davon nicht beeindrucken lässt.

Mit einer Androhung von Sanktionen, wie sie bspw. gegen Russland wegen einer angeblichen „Annexion der Krim“ verhängt wurden, ist im Hinblick auf die israelischen Besatzungs- und  überhaupt nicht zu denken. Das hängt auch damit zusammen, dass sich ein deutscher Politiker, der es wagt, Israel zu kritisieren, gewissermaßen auf ein Minenfeld begibt, denn die bedingungslose Solidarität mit Israel  gilt als Staatsraison und er (oder sie) läuft Gefahr, als „Antisemit“ gebrandmarkt und politisch erledigt zu werden. 

Dabei muss allerdings die Frage aufgeworfen werden, ob eine bedingungslose Solidarität mit einem Staat wirklich eine vernünftige Lehre aus den Verbrechen des „Dritten Reiches“ ist. Was ist, wenn dieser Staat, mit dem man sich bedingungslos solidarisch erklärt, selbst faschistisch oder rassistisch wäre oder eine extremistische Regierung hat und Verbrechen begeht? Gilt die bedingungslose Solidarität auch dann?

Die Verbrechen der Nakba

Über die Verbrechen der Nakba (Arab.: Katastrophe, Unglück) ist in Deutschland kaum etwas bekannt; die Medien meiden dieses gerade in Deutschland heikle Thema, es ist für Journalisten ein Minenfeld, das jemanden schon bei einer missverständlichen Formulierung den Job kosten kann. Die Frage, ob aus Opfern auch Täter werden können, wird angesichts der Ungeheuerlichkeit der an Juden begangenen Verbrechen im 2. Weltkrieg als unangebracht oder gar moralisch verwerflich angesehen. Daher kann sich der zionistische Staat gern in eine Opferrolle begeben, um damit seine Politik der ethnischen Säuberung durchzuführen und zu legitimieren.

Es war der zionistische Gründungsmythos, dass die in verschiedenen Einwanderungswellen (Alijas) nach Israel einwandernden Juden (ein „Volk ohne Land“) in ein „Land ohne Volk“ kommen würden, denn dort, in Palästina, lebten ja bereits seit Jahrhunderten die Palästinenser, die Einwohner Palästinas. Die an den Juden im 2. Weltkrieg begangenen Verbrechen können nicht als Rechtfertigung für ethische Säuberung und einen weiteren Genozid dienen, denn das wirft natürlich die Frage auf, was denn die Palästinenser für die Verbrechen im 2. Weltkrieg können – die sie nicht verübten, aber unter denen sie seitdem zu leiden haben und dies – nach westlicher Logik – auch ertragen müssen. Bei der Nakba geht es um den Exodus der arabischen Bevölkerung in der Phase der Staatsgründung Israels 1948, um die Vertreibung von ca. 700000 Arabern aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Palästinenser verließen ihre Heimat keineswegs freiwillig. Es war massiver Terror, der sich in Massakern wie dem von Deir Yassin am 9.4.1948 entlud, um die Menschen in Panik und Schrecken zu versetzen, sodass sie in Angst um Leib und Leben aus ihrer Heimat flohen. Dies besorgten Terrororganisationen wie Irgun Tzwai Le‘umi (IZL) oder Lehi, die Zivilisten massakrierten und Angst und Schrecken verbreiteten.

Die Verbrechen der Nakba sind heutzutage gut belegt: Als unverzichtbare Standardwerke können dabei das 1987 veröffentlichte Werk The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947 – 1949 von Benny Morris, einem israelischen Historiker,  sowie das 1992 erschienene Werk All That Remains: The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948, wobei es sich um einen Almanach der zerstörten palästinensischen Dörfer handelt, der „unverzichtbar für jeden [ist], der die ungeheuren Ausmaße der Katastrophe von 1948 begreifen möchte“. Israelische Historiker wie Benny Morris oder auch Ilan Pappe bezeichnen die Nakba heute unumwunden als „ethnische Säuberung“ (Ilan PappeDie ethnische Säuberung Palästinas. Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2014) Der englische Soziologe Martin Shaw und das Center for Constitutional Rights, einer US-Menschenrechtsorganisation, bezeichnen die Nakba heute als „Völkermord“. Das israelische Kulturministerium verbot dagegen im Jahr 2008 die Verwendung des Begriffs Nakba, das israelische Verteidigungsministerium sperrte im letzten Jahr Dokumente über das Vorgehen gegen die arabische Bevölkerung aus dieser Zeit, sie wurden zur Geheimsache.[1] Es ist klar, dass das Gedenken an die Vertreibung der israelischen Regierung als eine Gefahr erscheint, denn die daraus folgende Forderung nach Rückkehr dieser Flüchtlinge bedroht den Apartheids-Charakter Israels.

Von der Terrororganisation Irgun zum Likud

Am 22.6.1946 führte die Irgun-Terrororganisation (als Araber verkleidet) unter ihrem Anführer Menachem Begin sogar einen Terroranschlag auf das King David Hotel in Jerusalem durch, bei dem nach verschiedenen Schätzungen bis zu 176 Menschen ums Leben kamen. Irgun und Begin bekannten sich zu dem Anschlag, wenn Begin auch darauf beharrte, vorher die Sicherheitskräfte informiert zu haben.

Als politische Nachfolgeorganisation des Irgun-Untergrundorganisation gründete Menachem Begin 1948 die nationalistische Cherut-Partei, als deren Vorsitzender Menachem Begin fungierte. Die Cherut bildete mit kleineren Parteien zunächst den Likud-Block und die spätere Likud-Partei, deren erster Vorsitzender 1973 wiederum Menachem Begin wurde. Die Likud-Partei, der der heutige Ministerpräsident Netanjahu angehört, ist somit die direkte Nachfolgeorganisation des Irgun, was auch durch die personelle Kontinuität verdeutlicht. Es kann durchaus die Frage aufgeworfen werden, ob es die Lehre aus dem Holocaust sein kann, sich mit Extremisten zu solidarisieren, die in direkter organisatorischer und personeller Kontinuität zu einer Organisation stehen, die selbst von israelischen Historikern als Terrororganisation bezeichnet und der ethnischen Säuberung beschuldigt wird. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei Menachem Begins Besuch in New York über 20 jüdische Intellektuelle (unter ihnen Albert Einstein und Hannah Arendt) am 4. Dezember 1948 in der New York Times eine Erklärung  veröffentlichten, die den revisionistischen Zionismus Begins in die Tradition „nazistischer und faschistischer Parteien“ stellten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]     https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wie-israel-berichte-ueber-massaker-an-palaestinensern-nachtraeglich-sperrt-16301027.html

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