web analytics
Donnerstag , März 28 2024
defa
Home / Publikationen / Reiseliteratur über den Iran: Ein Gegenentwurf zum Orientalismus in Ella Maillarts Der bittere Weg

Reiseliteratur über den Iran: Ein Gegenentwurf zum Orientalismus in Ella Maillarts Der bittere Weg

Ahmad Gholi, Seyed Mohammad Marandi, Zeinab Ghasemi Tari

Einführung

Reiseberichte zählen zu den ältesten literarischen Gattungen.[4] Es handelt sich dabei um nicht-fiktionale Erzählungen, in der der Autor nicht nur seine Beobachtungen, sondern auch seine Erfahrungen über und mit
der indigenen Bevölkerung und Kultur aus der Ich-Perspektive dokumentiert und an seine heimischen Leser weitergibt.[5] Kritikern waren Reiseberichte vor Saids „Orientalismus“  kaum einer wissenschaftlichen Diskussion würdig, da sie der Trivialliteratur und dem Bereich der Wirtschaftsbeziehungen[6] zugerechnet wurden. Saids Werk verschaffte dieser Gattung jedoch die Aufmerksamkeit akademischer Kreise.[7] Er untersucht in seinem Buch die Reiseberichte englischer und französischer Schriftsteller im Kontext des westlichen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Deren Reiseberichte seien willkürlich, sie würden die Tatsachen im Orient nicht wahrheitsgemäß wiedergeben, eher handle es sich dabei um Texte, die in Absprache mit dem westlichen Kolonialismus dessen hegemonialen Standpunkte vertreten: „Über Ägypten, Syrien oder die Türkei zu schreiben, bedeutete ebenso wie den Orient zu bereisen den Bereich politischen Willens, politischer Verwaltung, politischer Definition zu durchqueren“.[8] Die Ansichten Saids können weder völlig abgelehnt, noch als Wegweiser zur Untersuchung aller Reiseberichte herangezogen werden. Der Pessimismus Saids gegenüber Reiseberichten zog den Protest des bedeutenden Reiseschriftstellers Colin Thubron nach sich: „Die Gattung [Reisebericht] als einen Akt der Beherrschung anstatt des Verstehens zu definieren, erscheint zu vereinfachend … Wenn das Streben nach Verständnis [einer anderen Kultur] als Hegemonie und Aneignung betrachtet wird, dann verfallen menschliche Beziehungen der Paranoia“.[9] Daher wird die vorliegende Studie davon absehen, nach Saids Modell Klischees und ethnozentrische Gedanken zu untersuchen. Unsere Studie möchte vielmehr zeigen, wie Ella Maillart in ihrem Werk Der bittere Weg die binäre Unterscheidung von West und Ost überwindet. Hilfreich sind dabei die theoretischen Ansätze von Ali Behdad und Casey Blanton. Im Gegensatz zu Said gehen diese beiden Gelehrten davon aus, dass Reiseschriftsteller durchaus Gegenentwürfe zum Orientalismus entwickeln, indem sie den orientalistischen Blick aufbrechen und sich davon abwenden. Entsprechend argumentieren wir in diesem Text, wie Maillart ihren Gegenentwurf zum Orientalismus im Hinblick auf Iran und die Iraner in zweierlei Weise aufzeigt: erstens über eine Würdigung spiritueller Räume, und zweitens, indem sie ihre Solidarität mit den durch das Regime Reza Shahs unterdrückten Iranern zum Ausdruck bringt. Diese Argumentation wird untermauert, indem Der bittere Weg dem Reisebericht V. S. Naipauls, Eine islamische Reise: Unter den Gläubigen,gegenübergestellt wird, um Maillarts positive Reaktion auf die Einheimischen und deren Lebenswelt zu veranschaulichen. Darüber hinaus wird Robert Byrons The Road to Oxiana herangezogen, um Ähnlichkeiten zwischen den Gesichtspunkten Maillarts und Byrons im Hinblick auf die „Bereisten“ festzuhalten. Literaturwissenschaftler haben das Iranbild in Der bittere Weg bisher nicht untersucht, daher konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf den Iran sowie in Teilen auf Afghanistan, das seit jeher zum iranischen Kulturraum gehörte. 

Leben und Werk Ella Maillarts

Die Reiseschriftstellerin, Journalistin, Fotografin, Olympiateilnehmerin und Schauspielerin Ella Maillart (1903-1997) wurde in Genf in eine wohlhabende bürgerliche Familie hineingeboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie mit Skifahren, dem Lesen von Abenteuerbüchern und ihrer großen Liebe, dem Segeln. 1923 segelte sie mit Freunden über das Mittelmeer. Die Heirat ihrer besten Freundin zwang sie, ihre ehrgeizigen Segelpläne aufzugeben. 1930 reiste sie nach Moskau, um über russische Stummfilme zu recherchieren. Ihre Reise wurde in die kommunistischen Welt fand ihren Niederschlag in dem Buch Auf kühner Reise: Von Moskau in den Kaukasus. 1932 zog es sie erneut nach Russland, diesmal auf der Suche nach elementaren Gesetzen menschlichen Daseins; sie hoffte, diese Gesetze auch unter den Nomadenvölkern Turkestans wiederzufinden. Maillart hielt die Begegnung mit diesen indigenen Völkern in ihrem Reisebericht Turkestan Solo fest. Als sie im Jahre 1934 als Korrespondentin für die Zeitung Le Petit Parisien einen Bericht über die Besatzung der Mandschurei durch Japan schreiben wollte, lernte sie den bekannten Reisebuchautor Peter Fleming kennen. Fleming war im Auftrag von The Times dort. Beide reisten inmitten politischer Unruhen durch die verbotenen Regionen Asiens. Nach dieser beschwerlichen Reise veröffentlichte sie das Werk Verbotene Reise: Von Peking nach Kaschmir. 1939 reisten Maillart und Annemarie Schwarzenbach gemeinsam per Auto, einem im Ford von Schwarzenbach, nach Afghanistan. Sie flüchteten vor den Gefahren eines sich anbahnenden Krieges. Doch das war nicht ihr einziges Ziel. Maillart wollte die Sitten, Bräuche und das Handwerk der Bewohner „Kafiristans“ (heute: Nuristan, das „Land des Lichts“) im Hindukusch studieren. Außerdem strebte sie nach Selbsterkenntnis. Schwarzenbach versuchte ihrerseits in Begleitung der robusten Maillart ihre Morphiumsucht zu überwinden und ihre turbulente Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie fuhren zunächst von Genf über Italien und Jugoslawien nach Istanbul. Dann reisten sie in den Iran und weiter bis Teheran. Dort hielten sie sich einige Zeit auf. Anschließend ging es weiter nach Gonbad-e Kavous und in die heilige Stadt Mashhad. Die letzte Station ihrer Reise war Afghanistan. Nach sechs Monaten erreichten sie Kabul. Dort trennten sich ihre Wege: Schwarzenbach, krank und weiterhin morphiumsüchtig, schloss sich befreundeten Archäologen in Kunduz an. Die Reise erfüllte   die Erwartungen beider nicht. Schwarzenbach gelang es nicht, von ihrer Sucht freizukommen, und Maillart konnte ihre ethnologischen Studien nicht fortsetzen, da die Grenzen nach Kafiristan geschlossen waren. Schwarzenbach kehrte schließlich in die Schweiz zurück, Maillart blieb hingegen von 1940 bis 1945 in Indien, wo sie mit Hilfe zweier indischer Gurus ihren Seelenfrieden fand. Der bittere Weg (1947) ging aus den Erfahrungen dieser Reise hervor. Im Hinblick auf Iran und Afghanistan befasst sich ihr Reisebericht mit dem politischen Geschehen, bedeutenden historischen Persönlichkeiten, dem Sufismus, Heiligenschreinen, Dichtern wie Rumi, Dschami und Khwaja Abdullah Ansari, ferner Architektur, Modernität, Industrie und Nomaden. Zudem schreibt Maillart über den Volksglauben, die Basare, Frauen, Bildung und die Widersprüche zwischen der traditionellen Lebensweise und der aufstrebenden modernen Welt. In ihrem Reisebericht beruft sich Maillart auf historische, literarische und religiöse Quellen in Iran; dabei berücksichtigt sie auch englische und französische Schriftquellen über den Iran und Afghanistan, wodurch ihr Reisebuch hochgradig intertextuell und vielstimmig wird.

Neben Der bittere Weg hat Maillart vier weitere Bücher veröffentlicht: Vagabundin des Meeres (1942), in dem sie an ihre früheren Segelabenteuer erinnert, Leben ohne Rast: Eine Frau fährt durch die Welt (1950), die biografische Erzählung, Ti-Puss: Drei Jahre in Südindien mit einer Katze als Kamerad (1954), in der Maillart über ihre spirituellen Erfahrungen und deren Bedeutung im Leben reflektiert, und schließlich Im Land der Sherpas (1955) über ihre Reise in die ferne Welt Nepals.

 

Quelle: SPEKTRUM IRAN 35. Jahrgang 2022, Heft ½

http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2022/08/reiseliteratur.pdf

[1]. Doktorand, Englische Abteilung. Fakultät für Fremdsprachen und Literaturen, Universität Teheran, Iran.

[2]. Der Professor, Englische Abteilung. Fakultät für Fremdsprachen und Literaturen, Universität Teheran, Iran (Korrespondierender Autor), Email: mmarandi@ut.ac.ir

[3]. Die Assistenzprofessorin, Fakultät für Weltstudien, Universität Teheran, Iran.

[4]. Dalrymple 2010: xxi.

[5]. Borm 2004: 17.

[6]. Clark 1999: 1.

[7]. Hannigan 2021: 39.

[8]. Said 1981:  193.

[9]. Zitiertnach Dalrymple 2003: 61.

Check Also

Persophilie neu betrachtet im globalen Kontext – Ein Gegenentwurf zu Edward Saids Orientalismus-Kritik

Das westliche Vorstellungsbild vom Orient – und damit auch von Persien, wie der Iran bis 1935 hieß – oszilliert seit Jahrhunderten zwischen Bewunderung für Kultur und Geschichte einerseits und Misstrauen, Verachtung und Angst andererseits, wobei letztere Einstellung im Verlauf des 20. Jahrhundert zunehmend die Oberhand gewonnen hat. Entsprechend abwechslungsreich verliefen historisch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert