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Kathleen Göbel ist Schriftstellerin, Verlegerin und Übersetzerin zahlreicher Werke aus dem orientalischen Sprachraum gilt als anerkannte Spezialistin dieser Kultur und Literatur.

Der Weg nach Kerbala – Eindrücke einer Arbain Pilgerreise

Die größte Versammlung der Welt und der längste Fußmarsch, an der Millionen von Muslimen und Nichtmuslimen aus aller Welt teilnehmen, wird auch von vielen Menschen aus Europa und auch Deutschen besucht. Hier geben einen Reisebericht wieder, aus der Feder der Autorin und Islamwissenschaftlerin Kathleen Göbel stammt, die bereits 2014 die Arbain Pilgerreise vollzogen hat.

Der Weg nach Kerbala

Von Kathleen Göbel | Der Schrein von Imam Hussain hat einen Grundriss von ca. 60m x 75m, verfügt über 10 Eingänge und ca. 65 Räume, die vergoldete Hauptkuppel des Mausoleums ist ca. 27m hoch, zählt zu den heiligen Orten des Islam und als eines der Zentren der Schia. Er ist auf der Wüstenebene von Kerbala im heutigen Irak errichtet, wo Hussain, Enkelsohn des Propheten Muhammad im Jahre 680 zusammen mit 72 seiner Familienangehörigen und Getreuen, darunter Frauen, Kinder und Greise, den Märtyrertod fand als sie sich einer Übermacht von einigen Tausend Soldaten des Usurpators Yazid stellen mussten. Hussains neugeborener Sohn wurde gemetzelt, während er ihn schützend in den Armen hielt, auch sein Halbbruder Abbas starb unter dramatischen Umständen als er trotz seiner tödlichen Wunden noch versucht hatte, Wasser für die Verdurstenden zu holen.

Es war Hussains mutige Schwester Zaynab, die das Massaker überlebt hatte und auf einem Kamel stehend als erste öffentlich ihre Stimme in einer flammenden Anklage erhob, geprägt vom Schmerz des Geschehenen. Hieraus entwickelte sich die Tradition der Klage um den Verlust Hussains, einem edlen, ritterlichen und gerechten Menschen, den die Muslime zu ihrem rechtmäßigen Führer erkoren hatten, zumal er aus der engsten Familie des Propheten stammte.

Sein Todestag war am 10. Muharram, an dem das Aschurafest begangen wird, was sich grob gesagt den christlichen Passionsspielen vergleichen läßt. 40 Tage danach ist dann Arbain. Zu diesem Tag pilgern seit Jahrhunderten Schiiten, aber auch Sunniten und Christen aus allen Nationen zum Schlachtfeld nach Kerbala und folgen Hussains in die vier Himmelsrichtungen wiederholten Ruf „Ist da jemand, um zu helfen…“.

Im Konzept von Arbain mischen sich zwei zugrundeliegende Aspekte: die Trauer um Hussain, der den Heldentod eines edlen Kriegers starb, und noch im Tod ein Vorbild an Ritterlichkeit und Vorzüglichkeit war, wie der politische Aspekt der Erhebung gegen Ungerechtigkeit, Unrechtsherrschaft und Unterdrückung der Wahrheit seitens der Herrschenden – damals wie heute ein aktuelles Thema, das durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Anlass gab zur Verhinderung und Aussetzung der Pilgerreisen zu Arbain. Harun ar-Raschid gehörte zu denen, die die Pilgerreise untersagten, Mutawakil liess den Schrein gar abreissen, Abud ad-Daula und später Fath Ali Qadschar bauten ihn wieder auf. 1991 ging Sadam Hussain mit äußerster Brutalität gegen die Schia vor, fiele starben, der Schrein in Kerbala wurde schwer beschädigt, einige Gebäude gar abgerissen. So groß war seine Angst, sein eigenes Volk könne Arbain zu einem Attentat auf ihn nutzen, daß jeder, der zu der Zeit um Arbain auf der Straße nach Kerbala lief, festgenommen wurde. Erst 2003 wurde Arbain wieder möglich und es galt als bahnbrechend, dass bereits 2004 eine Million Pilger teilnahm. Es kam zu Bombenattentaten und zahlreichen Toten, dessen ungeachtet wuchsen die Pilgerströme Jahr um Jahr an und die Menschen laufen wieder nach Kerbala, dem Ruf Hussains folgend.

Sie laufen und laufen, mit Kindern auf der Schulter oder vor sich im Buggy schiebend, mit der alten Mutter im Rollstuhl, manche schleppen sich auf Krücken dahin, andere barfuß. Es dauert vielleicht 3 Tage aus Najaf, aus Bagdad vielleicht eine Woche, vom Iran aus länger, viele kommen aus Pakistan, und auch aus Europa, einige aus Fernost. Letztes Jahr (2013) waren es ca. 8 Mio, die aus allen Ländern der Welt nach Kerbala strömten und die Straßen von Najaf und Baghdad nach Kerbala füllten – trotz bitterer Kälte und Schnee. Durch den Mondkalender wandert Arbain jedes Jahr weiter voran, so daß die Pilger bald in glühender Hitze dahinziehen werden.

In einer Doku aus dem Internet (youtube) zu Arbain ist das Interview mit einem Familienvater. Danach befragt, wieso er denn so ungerührt mit seiner Familie weiterziehe, ob er denn keine Angst vor etwaigen Bomben habe oder vor Essen, das die Bombenleger im Vorjahr in einigen Rasthäusern vergiftet hatten, sagt der Mann: „Nein, wir haben keine Angst. Wir nennen dies „Die Straße der Freien“ und wir werden diesen Weg im Gedenken an Imam Hussain laufen: gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit – Kerbala ist überall!“

2014 nun erwies sich diese Pilgerreise als die weltweit größte, jemals dagewesene Demonstration überhaupt: es kam die unvorstellbare Zahl von 20,5 Mio Menschen zu einer Demonstration des Islam als eine edle und friedliebende Religion. Der Irak öffnete seine Grenzen, setzte die Visapflicht aus: jeder – aber auch jeder war willkommen. Der Staat half unterstützend, d.h. schützend-ordnend, Nachbarländer wie der Iran sandten LKWs mit freiwilligen Trupps für die Müllabfuhr; dennoch erfolgte die Organisation nicht auf staatlicher Ebene, sondern dirigiert von der Schreinverwaltung über die Menschen selbst, so wie es traditionsgemäß gehandhabt wurde; nur war es ein Wunder, wie dieses System bei dieser Menschenmasse, die nach Kerbala walzte, immer noch funktionierte.

Die lokalen Medien bezeichneten die ca. 100km lange Straße von Najaf nach Kerbala als die längste gedeckte Tafel der Welt, denn traditionsgemäß bereiten sich die Dörfer rechts und links des Weges ein Jahr lang auf die Pilger vor. Da sind Dörfer, die spenden Tonnen an Datteln, getränkt in Tahin, andere backen Berge an Fladenbroten, grillen Gemüse, wohlhabende Geschäftsleute spenden Kebab und unter überdachten Unterständen dampft duftender Pilaw in Töpfen, so groß, daß zwei Männer sie nicht umspannen können.

Dorfbewohner, die selbst kaum etwas besitzen, schlagen Zelte auf und bieten Männern wie Frauen in Zelten Massage an, um die schmerzenden Muskeln zu entspannen. In einem Armeezelt sind 50 angereiste pakistanische Ärzte tätig, die auf Pilgerprobleme spezialisiert sind. Rund um die Uhr behandeln sie Blasen und andere kleinere Verletzungen.

Ein Vater mit seinen zahlreichen Söhnen betreibt eine Reparaturwerkstatt für Rollstühle und Buggies, hinter ihnen aufgetürmt ein Berg von Ersatzteilen, das ganze Jahr über gesammelt.

Rechts und links des Weges gibt es Hussainias, kleine Dependancen des Schreines mit Gebetsräumen, sanitären Anlagen und Schlafsälen zur Übernachtung wie auch vor und in den Innenhöfen. Es ist kalt, aber unter einer der bereitgehaltenen dicken schweren Decken findet auch eine ganze Familie Platz für die Nacht, und wenn keine Matten mehr da sind, tut es für die eine Nacht auch mal ein Pappkarton als Unterlage.

Wenn es dunkel wird, kommen die Beduinen und laden ein, sie in die etwas entfernteren Dörfer zu begleiten, wo Zelte bereit stehen. „Komm Pilger, beehre mein Haus!“ Im Gedränge der Pilger, die noch ohne Schlafstätte sind, werden Grüppchen allein pilgernder Frauen vorgeschoben: „Geht ihr zuerst, dort seid ihr in Sicherheit!“ Am Abend vor den Toren Kerbalas von allen Seiten die Rufe: „Komm, Pilger, übernachte in meinem Haus, geh nicht weiter, die Stadt ist schon überfüllt, Du findest keine Schlafstätte und wirst zurückkommen müssen. Bleib lieber hier und zieh morgen weiter…!“

Kerbala ist mehr als überfüllt, man kommt nur äußerst mühsam vorwärts, nicht nur des Gedränges wegens, auch die Bürgersteige sind von dort übernachtenden Pilgern okkupiert, denen die Hausbewohner und Nachbarn jede im Haus verfügbare Decke herausgebracht haben.

Imam Hussain gilt als Mushkil Gusha, der „der alle Schwierigkeiten löst“ und in seinem Geist ist jeder Pilger verpflichtet, dem anderen zu dem zu verhelfen, was er braucht und übt sich so wenigstens ein paar Tage im Jahr, für die Dauer der Pilgerreise, in dem edlen Benimmkodex, der zurück geht auf Imam Hussain. Rangeleien sind in dem friedlich-liebevollem Miteinander undenkbar: Deine Schuhe sind kaputt? Hier nimm meine, wenn es bei mir nicht mehr geht, werde auch ich Hilfe bekommen.

Kein Problem – ein wenig Geduld, Imam Hussain wird es schon richten! Die Menschen im Irak sind geschunden von der andauernden Kriegssituation, die Städte mit dem historischen Kulturerbe sind großteils zerstört, die Romantik der Altstädte mit dem Flair von 1001 ebenso verschwunden wie ganze Landstriche voll Palmenhainen, die Saddam Hussain abholzen ließ und das Areal der Wüste zurückgab – so groß war seine Angst, daß die für Panzer undurchdringlichen Palmenhaine Aufständischen Schutz bieten könnten.

Solange die Situation ist, wie sie ist, lohnt es nicht, mit Wiederaufbau zu beginnen und man wohnt in provisorischen Behausungen, Barraken, Lehmhäuschen oder schnell hochgezogenen Betonsilos – unendliche Hässlichkeit, die die Städte prägt, dabei ist der Irak ja nicht arm – und schulterzuckend rätselt man, wohin das Geld wohl fließen mag: zu dem kleinen Mann auf der Straße und seinen vielen Kindern sicherlich nicht.

Hoffnungslosigkeit rundum, jegliches Vertrauen in die Regierung ist verloren, keine Aussicht auf eine sich bald ändernde Zukunft. Hässlichkeit und Armut rundum – vor diesem Hintergrund ist Arbain an sich bereits ein Wunder in sich:

Menschen, die nichts haben, nicht mal Aussicht auf Zukunft, geben, was sie geben können und weit darüber hinaus – und genau das lässt sie reich sein: zu geben in einer Situation, in der sie mehr als berechtigt wären, zu nehmen. Lässt sie reicher sein als den Reichen im Westen, der mit verschlossenem Herzen im Wohlstand lebt und nicht gelernt hat, zu geben und sich um seinen Nachbarn zu kümmern.

In Arbain ist Heilung für eine geschundene unterdrückte Nation. Kerbala ist überall – und so bleibt zu hoffen, dass der Westen doch Arbain entdecken möge, die darin enthaltene Heilung und Hoffnung: zu geben statt zu nehmen: welch erstaunliche Lösung.

Kathleen Göbel 15.12.14

Kathleen Göbel ist Schriftstellerin, Verlegerin und Übersetzerin zahlreicher Werke aus dem orientalischen Sprachraum gilt als anerkannte Spezialistin dieser Kultur und Literatur. Ihr letztes Werk „GOTTES GEHEIMER NAME: Al-`ASMA UL HUSNA – DIE 99 SCHÖNSTEN NAMEN GOTTES“ erschien am 19. Juli 2019 im Main-Donau Verlag.

Autorengespräch mit Kathleen Göbel

 

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