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Die islamische Befreiungstheologie im Testament Imam Chomeini.

Gedanken zum Todestag Imam Chomeini am 3. Juni 2022 

Imam Chomeini als Mystiker

Dr. Markus Fiedler | Hat der Mensch eine Seele und was passiert mit der menschlichen Seele, wenn der Tod eintritt?

Wie soll der Mensch sich darauf vorbereiten? Die alten Ägypter – und nicht nur sie – gaben den toten Pharaonen bekanntlich ungeheuere Schätze für ihr Leben nach dem Tod mit ins Grab. Chomeini waren als gläubiger Muslim solche Vorstellungen fremd. Dass er auch ein großer Mystiker war, ist im Westen kaum bekannt. Bereits die ersten Sätze seines politischen und religiösen Testaments weisen ihn als einen solchen aus – und sie sind eigentlich voller Tiefe und bei genauer Betrachtung sehr schön. Seine Gedanken sind dabei die Folgenden: Er trete nun (wie jeder Mensch) die große, letzte Reise an. Es ist eine Reise, von der es bekanntlich keine Wiederkehr bzw. kein Zurück gibt. Was kann der Mensch wohl auf diese gefährliche Reise mitnehmen? Sicherlich kein Gold und keine Schätze oder anderer irdische Güter. Chomeini Antwort dürfte wohl auch Christen und Angehörige manch anderer Religionen erstaunen und überzeugen: Der Mensch kann „nur“ den Glauben an die Güte und Barmherzigkeit des höchstens Wesens als Wegzehrung mitnehmen – ein scheinbar leichtes, unscheinbares, aber im Endeffekt wohl das richtige und auf der „himmlischen Waage“ womöglich das Gepäck mit dem schwersten Gewicht, das letztlich ausschlaggebend sein kann. In einer christlichen Broschüre ist zu lesen: „Ist jemals gehört worden, dass der barmherzige Gott denjenigen oder diejenige, der bzw. die an Seine Barmherzigkeit glaubt und auf sie vertraut, abweist und ins Verderben fallen lässt, ist doch die Barmherzigkeit Seine größte Eigenschaft?“ Auch hier wird deutlich, dass sich Chomeini in seinem Testament nicht nur an die Muslime und an das Volk von Iran wendet, sondern er selbst definiert die Adressaten wie folgt: „Ich möchte hier erwähnen, dass mein politisch-religiöses Testament nicht allein für das Volk des Iran geschrieben wurde, sondern es ist ein Rat an alle muslimischen Völker wie auch an die unterdrückten Völker der Erde, ungeachtet ihrer Nationalität oder Religion.“[1]

Weder Ost noch West – der Kampf um Souveränität

Imam Chomeini verfasste sein politisches und religiöses Testament am 15. Februar 1983 und ergänzte es später noch. Es wurde auf seinen Wunsch nach seinem Ableben am 3. Juni 1989 von seinem Sohn Ahmad Chomeini verlesen. Man muss sich bei den Ausführungen Imam Chomeini kurz die politische Situation zu der Zeit vergegenwärtigen, in der das Testament entstand. Es war die Zeit des „Kalten Krieges“, in dem sich die beiden Blöcke NATO und „Warschauer Pakt“ gegenüberstanden und die von einem ideologischen Kampf zwischen Kapitalismus und Marxismus-Leninismus gekennzeichnet war. Im Jahr 1980 waren sowjetische Truppen in Afghanistan – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran – einmarschiert, 1983 besetzten die USA die kleine Karibikinsel Grenada. Chomeini musste sowohl die Kräfte berücksichtigen, die den westlichen Kapitalismus unkritisch verklärten als auch die damals noch starken Kommunisten, die bereit waren, aus dem Iran einen Satellitenstaat der Sowjetunion zu machen. Eine Unterwerfung unter einer der beiden Supermächte kommt für Chomeini nicht infrage. Er macht deutlich, „dass es besser wäre, durch die kriminellen Hände der Amerikaner und Sowjets von der Weltszene zu verschwinden, als ein komfortables und aristokratisches Leben unter der Fahne der Roten Armee des Ostens oder westlicher Truppen zu haben. Dies war die Praxis der Propheten, Imame, Muslime und religiösen Weisen, der wir folgen müssen.“ Imam Chomeini bringt in seinem Testament seinen Glauben zum Ausdruck, dass die islamische Revolution von 1979 im Iran nicht ohne göttliche Hilfe möglich gewesen wäre. Er macht weiterhin deutlich, dass „der Islam und die Islamische Regierung .. göttliche Dinge [sind], deren Verwirklichung Wohlstand in dieser Welt und Rettung im Jenseits garantieren. Sie können Ungerechtigkeiten, Tyranneien, Verwüstungen und Korruptionen zunichte machen und der Menschheit helfen, zur Perfektion zu gelangen. Im Gegensatz zu religionsfeindlichen Ideologien, gibt der Islam Richtlinien für jeden Aspekt des Lebens, seien sie sozialer, materieller, spiritueller, kultureller, politischer, militärischer oder ökonomischer Art.“ Für Chomeini wurde der Islam, der ursprünglich eine revolutionäre Religion sei, die für die Rechte der Unterdrückten und Entrechteten eingetreten sei, seit dem Sturz Imam Alis mit der Zeit von den Herrschenden zu einer reaktionären Religion für die Ausbeuter und Unterdrücker umgeformt. Mit der islamischen Revolution 1979 kehre der Islam nun wieder zu seinen Ursprüngen zurück. Während der Herrschaft von Reza Khan erreichte die Unterdrückung im Iran Chomeini zufolge ihren Höhepunkt und bestand unter der Herrschaft Muhammad Rezas fort. Der Iran war in dieser Zeit „eine militärische Basis für die Vereinigten Staaten“, die „unser Land als ihre Kolonie behandelten“, „das Parlament, die Regierung und die Armee [waren] in den Klauen der Amerikaner. Wisst ihr wirklich nicht, was ihre Berater, Techniker und Industriellen unseren Ressourcen antaten? Habt ihr wirklich die zunehmende Prostitution in unserem ganzen Land vergessen, wie auch die ständig wachsende Zahl von Korruptionszentren, Spielhallen, Weinkellern und Likörgeschäften, Kinos und anderen Vierteln, die wichtige Elemente für den Ruin unserer jungen Generationen waren? Habt ihr wirklich jene korrupten Massenmedien und Periodika und Zeitungen in diesem Regime vergessen?“

Chomeini appelliert an die naiven „Westhörigen“, die ihre Land erneut in die Abhängigkeit von den USA bringen wollen und fordert sie stattdessen auf, für die Souveränität ihres Landes einzutreten.

Er wendet sich aber auch an die Kommunisten und den ihnen Nahestehenden, die das Land von einem Joch in ein anderes überführen möchten: „Welches Motiv veranlasste euch, euer Land in den Schoß der Sowjets oder Chinas ziehen zu wollen, warum solltet ihr einen Krieg führen gegen euer eigenes Volk im Namen der Sache des ‚Volkes‘, und warum solltet ihr im Interesse der ausländischen Feinde zu Verschwörungen gegen euer Volk und gegen die tyrannisierten Massen in diesem Land beitragen? Ihr seht, dass diejenigen, die sich dem Kommunismus seit seiner Entstehung verschrieben haben, die diktatorischen, machthungrigen und hegemonistischen Regierungen in der Welt geführt haben. Wie viele Länder wurden unter dem Druck der Sowjetunion vernichtet und hörten auf zu existieren? Die von der Sowjetunion regierten Völker, muslimische und nichtmuslimische gleichermaßen, werden unterdrückt von den Diktatoren der Kommunistischen Partei; ihnen wird jede Form von Freiheit versagt, und sie sind einer Abschnürung unterworfen, welche die schlimmste aller Diktaturen in der heutigen Welt ist. Wir sahen, dass Stalin, eine der so genannten schillernden Figuren der Kommunistischen Partei, sich mit aristokratischen Zeremonien umgab. Nun gebt ihr euer Leben um eurer Liebe für dieses Regime willen, während die unterdrückten Massen in der Sowjetunion und den Ländern des sowjetischen Blocks, wie Afghanistan, unter der Grausamkeit des sowjetischen Regimes leiden. Ungeachtet dieser Entwicklungen setzt ihr eure Verbrechen gegen das Volk, das ihr zu unterstützen behauptet, fort.“ 

Das iranische Revolutionsoberhaupt wendet sich aber nicht nur an die Bewohner des Iran, sondern fordert die unterdrückten Völker der Welt auf, sich des Jochs der Supermächte zu entledigen und für ihre Souveränität, für ihre eigene Kultur und Würde zu kämpfen.

Der Kampf um soziale Gerechtigkeit

In seinem Testament macht der iranische Revolutionsführer seine Auffassung deutlich, dass der Islam „ein ausgewogenes und moderates Regierungssystem“ hervorzubringen vermag, das in der Gesellschaft soziale Gerechtigkeit, ja sogar soziale Gleichheit herstellen kann, und „soziale Gleichheit ist die Vorbedingung für ein gesundes politisches System.“ Dazu müsse das Privateigentum anerkannt und „in einer begrenzten Form respektiert“ werden, ohne aber in das Extrem des Kapitalismus zu verfallen, in dem einige wenige die Produktionsmittel in ihren Händen konzentrieren und dadurch in der Lage sind, die Masse der Menschen des notwendigen Lebensunterhalts zu berauben, zu entrechten und zu unterdrücken. Chomeini weist darauf hin, dass „der Islam keinen tyrannischen Kapitalismus, der darauf zielt, die unterdrückten Massen zu entrechten, billigt. Das Buch und die Traditionen verurteilen diese Art des Kapitalismus scharf und sehen ihn als der sozialen Gerechtigkeit entgegenstehend an, obwohl einige, die über die islamische Regierung und politischen Fragen in einem islamischen Staat uninformiert sind, fälschlicherweise gedacht haben, dass der Islam unkontrollierten Kapitalismus und privaten Besitz vertrete.“ Die islamische Revolution im Iran 1979 war für Imam Chomeini ein Mittel, um das Land von den Unterdrückern und Ausbeutern zu befreien und ein Regierungssystem zu errichten, das in der Lage ist, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Man muss Chomeini zufolge allerdings auch darauf achten, nicht in das „andere Extrem“ zu verfallen  –  „ein Regierungssystem wie [den] Kommunismus und Marxismus-Leninismus, der privates Besitztum verurteilt und den Kommunismus in allen Stufen vertritt oder vertrat. Dies wäre eine destruktive Diktatur.“

In diesen Auffassungen Chomeini wird die islamische Überzeugung deutlich, dass der Islam die Religion des „mittleren Wegs“ ist. So heißt es z.B. im Quran, Sure 2,143: „Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht …“ Der „mittlere Weg“ ist somit der vorgeschriebene göttliche Weg – ganz gleich, ob es um die Lebensführung, die Ess- und Trinkgewohnheiten, die Ökonomie, den Einsatz von Gewalt oder auch um den Gottesdienst geht: Der Islam empfiehlt demnach stets den mittleren Weg.

[1] Die hier und im Folgenden verwendeten Zitate aus dem Testament Khomeinis sind der bei www.eslam.de verfügbaren Fassung entnommen.

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