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Mystik als Tochter der Religion

Peter Gerdsen | Religion und Mystik sind Grundtatsachen der Menschheit, in denen zum Ausdruck kommt, dass Menschen transzendente Wesen sind. Was bedeutet Transzendenz? In diesem Begriff kommt zum Ausdruck, dass der Mensch seinen Ursprung in einer Sphäre außerhalb dieser Welt hat, die gekennzeichnet ist durch Raum, Zeit und Materie. Das Bewusstsein unserer Herkunft aus einer Sphäre jenseits dieser Welt geht den Menschen auch in säkularen Zeiten nie ganz verloren.

In Europa wurde das Leben der Menschen bestimmt durch Religion, Kunst und Wissenschaft. Im Zeitalter des Säkularismus, in dem die Menschen mehrheitlich ihre Religion verwarfen, kam es zu einer Verschiebung zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft. Die Kultur hatte bisher ihre Struktur immer von der Religion erhalten. Als diese ausfiel, übernahm die Wissenschaft diese Aufgabe. Zwar hatten die Menschen mehrheitlich ihre Religion verworfen; aber das nun unbewusste Wissen um die transzendente Herkunft blieb lebendig. So übernahm die Kunst die Aufgabe, das ehemals religiöse Bedürfnis der Menschen zu befriedigen. Die Verunglimpfung religiöser Symbole wurde kommentarlos hingenommen, während sie bei Kunstwerken helle Empörung hervorrief.

Doch das Bewusstsein der eigenen Herkunft aus einer Sphäre jenseits dieser Welt ist es nicht allein, was den Menschen antreibt, immer wieder die Verbindung dorthin zu suchen. Der Mensch wird geboren, wächst heran und lebt sich in diese Welt hinein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie eine Sogwirkung ausübt, die ihn seine Herkunft aus einer Sphäre jenseits dieser Welt vergessen lässt. Dies kann dazu führen, dass irgendwann im Laufe des Lebens nicht nur der innere Halt, sondern auch der Sinn des Daseins verlorengeht. Dann verliert der Mensch sich selbst; er weiß nicht mehr, wer er ist.

Es ist anzunehmen, dass es diese Situation schon immer gegeben hat. Deshalb gab es zu allen Zeiten in allen Völkern nicht nur die Religion, sondern auch die Mystik; beides Wege, um die Verbindung in die jenseitige Sphäre der eigenen Herkunft wiederherzustellen. In welchem Verhältnis stehen nun Religion und Mystik zueinander?

Kennzeichnend für Religion ist, dass von ihr eine Kultur schaffende und Kultur strukturierende Kraft ausgeht und dass sie sich in Gemeinschaft verwirklicht. Das steht in einem gewissen Gegensatz zur Mystik; denn diese verwirklicht sich in der Regel durch die Aktivität eines einzelnen Menschen. Dieser begibt sich nach Art einer meditativen ›In-sich-selbst-Versenkung‹ auf eine Reise in seine Innenwelt, um Eins zu werden mit dem geistigen Urgrund der Welt und vielleicht sogar eine personale Begegnung mit dem Schöpfer der Welt zu erfahren. Es ist anzunehmen, dass zunächst die Mystik in Erscheinung trat, indem ein Mystiker vor die Menschen trat und von Offenbarungen berichtete, die ihm auf dem Weg in den geistigen Urgrund der Welt zuteilwurden. Diese Offenbarungen konnten zum Fundament einer Religion werden.

Charakteristische Elemente für Religion und Mystik sind das Gebet und die Meditation. Wie verwirklicht sich Religion? In erster Linie durch Gottesdienst und Gebet, aber auch durch den Glauben. Ein Gebet ist seinem Wesen nach, eine Zwiesprache mit für den Beter lebendigen personalen Gott; denn es ist gegenüber dem nichtpersonalen, geistigen Urgrund der Welt, nicht möglich. Das Gebet kann die Form einer Anbetung annehmen. Dann vergisst der Mensch sich und seine Bedürfnisse und ›ergießt‹ sich mit seinem ganzen Sein bewundernd, lobend und preisend vor Gott. Wie kann Gottesdienst beschrieben werden? Er ist ein gemeinschaftliches Ereignis nach bestimmten Regeln in einem sakralen Raum, in dem unter anderem im Gebet die Nähe Gottes gesucht wird. Häufig wird die Bedeutung in dem Sinne erweitert, dass das ganze Leben des Menschen ein Gottesdienst sein soll.

Neben dem Gottesdienst und dem Gebet ist es der Glaube, der im Zusammenhang mit der Religion eine Rolle spielt. Was bedeutet dieser Begriff? Das deutsche Wort spiegelt seine Bedeutung nur unzureichend wider; denn er beinhaltet nur ein schlichtes ›für wahr halten‹. Deutlicher wird es, wenn statt ›ich glaube an Gott‹ gesagt wird ›ich gelobe mich an Gott‹. Sehr nahe dem Inhalt des Begriffs ›Glaube‹ kommt das lateinische Wort ›credere‹ − das auf das das französische ›croire‹ zurückgeht −, welches sich zurückführt auf ›cors dare‹, was ›sein Herz schenken‹ bedeutet.

Während das Gebet konstitutiv ist für die Religion, erweist sich die Meditation als Grundelement der Mystik. Meditation nimmt als Erfahrungsform in vielen Religionen einen wichtigen Raum ein. Im Buddhismus, Hinduismus und Jainismus ist das höchste Ziel die Erleuchtung oder das Erreichen des Nirwana. In christlichen, islamischen und jüdischen Traditionen ist das höchste Ziel der meditativen Praxis das unmittelbare Erfahren des Göttlichen. Meditation als spirituelle Praxis ist immer auch in unterschiedliche religiöse Lehrgebäude eingebunden. Meditative Praktiken sind ein wesentlicher Bestandteil vieler Religionen. Ihr Spektrum ist weit gespannt.

Spektrum Iran – 32. Jahrgang 2019, Heft 3/4

http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2020/10/02_Mystik-als-Tochter-der-Religion_.pdf

 

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