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Wider den Kampf der Kulturen und Feindbilder – Die Briefe Ayatollah Khameneis an die Jugend im Westen

Dr. Markus Fiedler  Im Jahr 2015 wandte sich das iranische Revolutionsoberhaupt, Ayatollah Khamenei, in zwei Briefen direkt an die Jugend im Westen. Die westlichen Medien nahmen diese de facto nicht zur Kenntnis, obwohl doch diese Botschaften eines islamischen Führers in der aufgeheizten Stimmung nach einer Serie von Terroranschlägen in Frankreich von großem Interesse erscheinen. Der Brief fand dennoch seinen Weg zu vielen Adressaten – u.a. Dank des unermüdlichen Einsatzes selbstloser Muslime, die den Brief in deutschen Städten auf der Straße verteilten.

Das neue Feindbild Islam

Der erste Brief Imam Khameneis an die Jugend in Europa und Nordamerika datiert vom 21. Januar 2015. Der unmittelbare Anlass für diesen Brief waren Terroranschläge in Frankreich, wie bspw. den auf das Büro des „Satiremagazins“ „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015, die eine weit verbreitete antiislamische Stimmung zur Folge hatten. Ayatollah Khamenei war offenbar getrieben von der Sorge, dass diese Ereignisse im Verlauf einer sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in eine Eskalationsspirale führen könnte. Die Medien wurden ihrer Aufgabe auch in dieser Zeit seines Erachtens nicht gerecht, die Menschen sachlich und objektiv über den Islam zu informieren, sondern sie vermittelten stets ein einseitiges Bild. So äußerte er sich am Anfang des Briefes wie folgt: „Ich spreche zu Euch über den Islam und insbesondere über das Bild, dass sie Euch vom Islam vorlegen. Seit zwei Jahrzehnten, d.h. ungefähr nach dem Zerfall der Sowjetunion, hat es zahlreiche Bestrebungen gegeben, diese große Religion als einen beängstigenden Feind darzustellen.“

In der Tat hatten Teile der US-Machtelite nach dem Zusammenbruch des Kommunismus offen davon gesprochen, einen neuen Feind zu benötigen. Im Jahr 1993 veröffentlichte Samuel Huntington in der außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs einen Beitrag mit dem Titel The Clash of Civilizations?, in dem er nach dem Ende des Kalten Krieges die islamische Gefahr beschwor und vor einem chinesisch-islamischen Bündnis warnte.[1] Erinnert sei hier auch an das Project for the New American Century (PNAC), dem u.a. viele führende Regierungsmitglieder der Administration von George W. Bush anghörten – wie der spätere Vizepräsident Dick Cheney, Paul Wolfowitz oder Richard Perle. Historiker wie Howard Zinn oder Emmanuel Todd vertreten die Auffassung, dass das PNAC einen neuen Kalten Krieg geplant hatte und imperiale Interessen verfolgte. General Wesley Clark  erläuterte, wie diese Pläne nach „9/11“ unter dem Deckmantel des „Krieg des Terrors“ umgesetzt wurden.[2]   

Da die Leitmedien im Westen offenbar ihre Rolle in diesem neuen Kalten Krieg spielten, entschloss sich Ayatollah Khamenei, sich direkt an die Jugend im Westen wenden. Statt dem Hass und der Hetze zu erliegen und sich in einen „Kampf der Kulturen“ hineinziehen zu lassen, hat er daher die Jugendlichen gebeten, sich selbst über den Islam zu informieren: 

„Meine .. Bitte ist die, dass Ihr gegenüber der Flut von Vorurteilen und Hetzpropaganda, versucht, Euch direkt und unmittelbar mit dieser Religion vertraut zu machen. Der gesunde Verstand befiehlt, dass Ihr zumindest wisst, wovor Ihr flieht und Euch fürchtet und von welcher Beschaffenheit es ist. Ich bestehe nicht darauf, dass Ihr meine oder irgendeine andere Deutung des Islams akzeptiert. Ich sage nur: Lasst nicht zu, dass Euch, ausgehend von böswilligen und schmutzigen Motiven, diese lebendige und die heutige Welt beeinflussende Wahrheit (falsch) präsentiert wird.“

Die Jugendlichen sollten nicht blind den Medien vertrauen, sondern sich aus erster Hand informieren, selbst den Koran in die Hand nehmen, sich mit der Sunna befassen und die moralischen Lehren des Islam studieren. Die Jugendlichen sollten diese Gelegenheit für eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Islam nutzen, so der Appell des iranischen Revolutionsoberhauptes.

Nach den Hintergründen forschen und genau hinsehen

Ayatollah Khamenei fordert die Jugendlichen auch dazu auf, genau hinzusehen, was für Personen und Gruppierungen den Menschen in den Medien als „Terroristen“ verkauft werden: „Gestattet nicht, dass sie Euch heuchlerisch die Terroristen, die sie selber angeheuert haben, als Repräsentanten des Islams vorstellen.“

Die Jugendlichen, insbesondere die Intellektuellen, sollten dazu Nachforschungen anstellen und die Wahrheit suchen. Dies erscheint angesichts der Tatsache um so dringender geboten,  da „eine allgemein gültige und akzeptierte Definition des Terrorismus .. sich nicht finden [lässt]. Darüber existieren unterschiedliche Sichtweisen. Insbesondere ist die Grenze zwischen den Begriffen Terrorismus und Freiheitskampf oft fließend.“[3] Dies stellte der „Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages“ in seiner Ausarbeitung zum Thema „Terrorismus: Definitionen, Rechtsgrundlagen und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung“ aus dem Jahr 2009 fest. Man braucht sich z.B. nicht lange mit dem Afghanistan-Konflikt zu beschäftigen um festzustellen, dass die Mujaheddin, zu denen auch ein gewisser Osama bin Laden gehörte, einst vom Westen unterstützt wurden, als sie noch gegen die Sowjetunion kämpften,. „Al-Qaida“ war ursprünglich der Name eines Datenprogramms, mit dem US-Dienste Kämpfer aus den reichen Golfstaaten in den Hindukusch geschleust wurden.

Ein weiteres Beispiel: Der Westen bediente sich militanter Terroristen, um Assad stürzen zu wollen: „Auf den ersten Blick ist es für Christen in Europa und in den USA nicht glaubhaft, dass NATO-Länder Dschihadisten trainierten und mit Waffen versorgten… Doch die historischen Daten zeigen, dass genau dies passiert ist, mit dem Ziel, Assad zu stürzen.“[4] Ein 2015 publik gewordenes DIA-Dokument beweist dies eindeutig, „der Inhalt“, so Jürgen Todenhöfer, „verschlägt einem die Sprache“, denn es beweist, dass NATO-Länder mit den Gruppen kooperieren, die den Bürgern ihrer Länder als die Teufel unserer Zeit, aber zugleich als Vertreter des Islams verkauft werden.“[5]

Es wird hier nicht behauptet, dass westliche Intrigen die alleinige Ursache für das Entstehen von Terrororganisationen wie ISIS oder das Phänomen des „islamischen Terrorismus“ sind, aber sie sind auch ein Teil davon – ein Teil, von dem die Bevölkerung im Westen meist keine Kenntnis hat.

Der zweite Brief

Nach seinem ersten Brief an die Jugend in Europa und Nordamerika wandte sich  Ayatollah Khamenei am 29. November 2015 erneut an die Jugend im Westen:  „Die bitteren Vorfälle, die in Frankreich durch blinden Terrorismus ausgelöst wurden, haben mich erneut dazu bewogen mit Euch jungen Menschen in den Dialog zu treten. Ich bedauere es, dass solche Ereignisse der Anlass dazu sein müssen.“ Der unmittelbare Anlass war die Anschlagsserie vom November 2015. In einer koordinierten Aktion töteten Terroristen damals 130 Menschen. Am Abend des 13.11.2015 töteten Terroristen im Musikclub Bataclan allein 90 Menschen.

Ayatollah Khamenei brachte zunächst zum Ausdruck, dass ihn diese Taten und das durch sie verursachte Leid innerlich nicht unberührt lassen. Ein Mensch müsse aber auch das Leid in der islamischen Welt und deren offene Wunden zur Kenntnis nehmen. Es geht demnach nicht, dass das Leid der Menschen in Palästina, im Irak, im Jemen oder in Syrien einfach ausgeblendet oder ignoriert wird. So entsteht nur ein einseitiges Bild, dass zu neuem Hass und neuer Gewalt führen würde. Die Jugendlichen sollten zur Kenntnis nehmen, dass in der islamischen Welt auch Menschen lebten, die durch die westlichen Interventionen und Kriege (wie dem US-Angriff auf den Irak von 2003) ungeheures Leid erfahren hatten. Wenn man nur die Opfer im Westen wahrnimmt, tut man so, als gäbe es Tote erster und zweiter Klasse – ein Mensch in Europa oder Nordamerika würde als wertvoller als ein Menschenleben in der islamischen Welt erscheinen.

Bei genauerer Untersuchung des Briefes kann man hier ebenfalls konstatieren, dass Ayatollah Khamenei denjenigen, die auf einen „Kampf der Kulturen“ zusteuern, den Wind aus den Segeln nehmen möchte. Statt blind auf jede Hetze hereinzufallen, sollten die Jugendlichen selbst nachforschen, alles überprüfen und auch die Sichtweise der anderen Seite berücksichtigen. Den Aufrufen zu Hass und Gewalt setzt Ayatollah Khamenei somit sein Werben um Wissen, Aufklärung und Verständnis entgegen.

Die Briefe:
Erster Brief vom 21. Januar 2015
https://www.islamisches-erwachen.de/an-alle-jungen-menschen-in-europa-und-nordamerika/

Zweiter Brief vom 29. November 2015
https://www.islamisches-erwachen.de/an-die-jugend-im-westen/

 

[1]     Huntington, Samuel: „The Clash of Civilizations“, in: Foreign Affairs Bd. 72/1993, H. 3, S. 22-49

[2]    Clark, Wesley (2004): Winning Modern Wars: Iraq, Terrorism And The American Empire, S. 130 ff.

[3]     https://www.bundestag.de/resource/blob/414600/88ba85eb1357681569fdea159edc1f3d/WD-3-417-09-pdf-data.pdf

[4]     Ganser, Daniele: Illegale Kriege 2016, S. 295

[5]     Todenhöfer, Jürgen, zitiert Ganser 2016, S. 297

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